Ausführliche Begründungen und Erläuterungen zu den Forderungen:

 

Wie kommt es zur Benachteiligung von Frauen* im Gesundheitswesen?

 

 

Unsere Antwort: Hier trifft die Profitorientierung (Privatisierung und Ökonomisierung) vieler Bereiche des Gesundheitswesens als Beschleuniger auf die weitverbreitete Gleichsetzung: Mann = Mensch, auf Gender Bias (gender = „soziales Geschlecht“ und bias = „Vorurteil“) und auf eine pathologisierende und paternalistische Sicht auf Frauen*.

 

Forschungen und Versorgungsmaßnahmen bezogen auf Krankheitsursachen, Symptomatik und Verläufen, auf Diagnostik und Therapie orientieren sich aufgrund der Gleichsetzung nahezu ausschließlich an männlichen Körpern und Lebensbedingungen von Männern*. Die Versorgung von Frauen* ist nachgewiesenermaßen teils erheblich schlechter als die von Männer* und sie ist zum Teil sogar lebensbedrohlich!

 

So wird immer noch ignoriert, dass Medikamente bei Frauen* oft zu hoch dosiert sind, hormonelle Schwankungen und höhere Speicherfähigkeiten von Medikamentenbestandtei-len bleiben unberücksichtigt. Laut dem Pharmakologen Gerd Glaeske werden Frauen* dieselbe Dosierung verschrieben, wie z.B. Metoprolol, Bestandteil von Betablockern gegen Herzrasen und Migräne. Der Stoff wirkt bei Frauen* aber um bis zu vierzig Prozent stärker und sorgt für erhebliche Nebenwirkungen.

 

Durch die Einnahme von Verhütungspillen können Medikamente wie Valium, Cortison, Antidepressiva, Blutverdünner, Asthma-Medikamente und auch Antibiotika geschwächt oder verstärkt wirken (Süddeutsche (online-magazin) Frauen* werden medizinisch benachteiligt – was tun? 09. November 2021 - https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/gender-medizin-Frauen*-krank-endometriose-gebaermutter-90837).

 

 

Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden - obwohl sie mit 40% die häufigste Todesursache bei Frauen* ausmachen - nicht oder zu spät erkannt und oft falsch behandelt. Schwerwiegende Langzeiteffekte bis hin zum Sterberisiko sind die statistisch dokumentierten Folgen. Die Erkenntnis, dass Herzinfarkt-Symptome (Schmerzen in Brust, Kiefer, Schultern, Rücken, Übelkeit und ein Blutwert (hsTNI), die auf einen Herzinfarkt hinweisen) bei Männern* andere sind als bei Frauen*, sind im (medizinischen) Alltag nicht handlungsleitend. Betroffene Frauen* brauchen im Durchschnitt 45 Min. bis sie auf den Weg in die Klinik sind. Männer* benötigen durchschnittlich 20 Minuten. Frauen* werden nicht selten als erstes die Füße hoch gelagert und Kreislaufprobleme angenommen. Sie werden seltener reanimiert und schaffen es seltener in der optimalen Zeit von 60 Minuten bis zur Behandlung mit dem Herzkatheder. (Prof Hochleitner im online-magazin der Süddeutschen, https://www.privatpatient.at/tipps-infos/l/blog/von-herzerkrankungen-bis-covid-Frauen*koerper-ticken-anders/ vom 14.01.2022)

 

 

Nicht nur die weiblichen Patientinnen* werden im Gesundheitswesen erheblich benachteiligt, sondern ebenso die weiblichen Beschäftigten.

 

Auf der Grundlage des „Comparable-Worth“-Ansatzes konnten Wissenschaftler*innen nachweisen, dass weibliche Erwerbsarbeit systematisch unterbewertet wird. Hintergrund sind vergeschlechtlichte und diskriminierende Arbeitsbewertungen.

 

Die Tätigkeiten in Arbeitsbereichen, die überwiegend von Frauen* (mit einem Anteil von mindestens 70%) ausgefüllt werden, im Vergleich zu gleich bewerteten Tätigkeiten, die überwiegend von Männern* (weniger als 30% Frauen*) ausgeführt werden, sind sehr viel schlechter bewertet und daher auch schlechter bezahlt. In den „Betreuungsberufen im Gesundheitswesen“ machen Frauen* einen Anteil von 89% aus, sie erhalten einen durchschnittlichen Bruttolohn in Höhe von 11,97 €. Männer* erhalten durchschnittlich in diesen Berufen 25,90 € pro Stunde. (Prof. Dr. Ute Klammer (Studie: Laufzeit: 01.02.2015 - 31.12.2018): "Comparable Worth"-Arbeitsbewertungen als blinder Fleck in der Ursachenanalyse des Gender Pay Gap; Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung- veröffentlicht: https://www.uni-due.de/iaq/projektinfo/comparableworth.php 27.01.2022.)

Hochgerechnet haben Frauen* bei 35 Jahren Berufstätigkeit, einer Wochenstundenanzahl von 39 einen Einkommensverlust in Höhe von insgesamt 987.991,- € gegenüber Männern*.

 

Das Ergebnis dieser Diskriminierung wirkt sich ebenfalls auf nachrangige Leistungen der Sozialversicherungen (Rente, Arbeitslosengeld etc.) aus und ist deutlich als eine wichtige Ursache des Gender Pay Gaps zu erkennen.

 

In der fachärztlichen Ausbildung, bei der Bezahlung der meist weiblichen Pflegekräfte und bei der Behandlung von Patientinnen* wirken Gender Bias mit fatalen Folgen für die betroffenen Frauen*. So werden auch Ärztinnen* in den Fachausbildungen regelhaft schlechter beurteilt als ihre männlichen Kollegen, sie verbleiben länger in der Ausbildung und arbeiten dadurch für sehr viel weniger Geld.

 

 

Frauen* tragen die Folgen der Pandemie anders und schwerer als Männer*

 

Auch in der aktuellen Pandemie werden augenscheinliche, genderdifferenzierte Infektionsraten, Nebenwirkungen und Krankheitsverläufe bisher kaum wahrgenommen geschweige denn in den Maßnahmen berücksichtigt: Die Daten zeigen (teils schon vor der Pandemie), dass Frauen* bis in die Wechseljahre bei allen Medikamenten, auch Impfstoffen, mehr Nebenwirkungen, mehr Unverträglichkeiten und Allergien entwickeln als Männer*. Bei der Vergabe der Impfstoffe blieb diese Erkenntnis folgenlos. Ebenso wie die Tatsache, dass Long-Covid-Fälle häufiger bei Frauen* auftreten. Es gibt keine Anlaufstellen für diese Gruppe. Sie treten stationäre Maßnahmen nur in besonders harten Fällen an. Viele Frauen* versuchen trotz der Belastungen durch Long-Covid ihre familiären Verpflichtungen zu erfüllen. Homeschooling, Homeoffice und eine vermehrte Anzahl von Zuhause-Gepflegten sind hier nur ein paar Stichworte, die deutlich machen unter welchen Mehrbelastungen Frauen* stehen. Und sie erklären, was Prof. Hochleitner 2021 feststellt, dass in der Pandemie wesentlich mehr Frauen* als Männer* ihre Arbeit gekündigt haben und sie wieder vermehrt auf alte Rollenzuschreibungen und entsprechenden Care-Aufgaben im Privaten zurück- geworfen sind.

 

Darüber hinaus werden Rehabedarfe von Frauen*/Müttern ignoriert: Während die allgemeinen Rehaeinrichtungen wegen der Pandemie finanziell unter den Schutz des Staates gestellt wurden, blieben Müttergenesungswerke von dieser staatlichen Unterstützung ausgenommen. Ohne diese werden einige Einrichtungen die Pandemie wirtschaftlich nicht überstehen. Die Anlaufstellen für Mütter verringern sich gerade in diesen schweren Zeiten. (Süddeutsche (online-magazin) Frauen werden medizinisch benachteiligt – was tun? 09. November 2021 - https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/gender-medizin-Frauen-krank-endometriose-gebaermutter-90837).

 

 

Paternalistischer und pathologisierender Blick auf den weiblichen Körper

 

Dass der weibliche Körper bei allen Vorgängen, die sich mit den Geschlechtsorganen insbesondere mit den Fortpflanzungsorganen ablaufen, pathologisiert und kontrolliert wird, ist hinlänglich bekannt. Schon das Recht auf Informationen über Abtreibungsmethoden wird im § 219a eingeschränkt.

 

Bei monatlich wiederkehrenden Schmerzen während der Regelblutung kommt es nicht selten vor, dass die Fachärzte* darauf hinweisen, dass „dies nun mal so bei der Regel ist“ und zu Schmerzmitteln raten. Weitergehende Untersuchungen müssen vielerorts eingefordert werden. Bevor bei betroffenen Frauen* eine Endometriose diagnostiziert wird, können bis zu 10 Jahre vergehen. Nicht wenigen Frauen* mit Symptomen wie starke Schmerzen und einer starken Blutung oder Gebärmuttermyomen wird auch heute noch ohne eine entsprechende Indikation die Gebärmutter entnommen. Andere Heilmethoden werden selten in Betracht gezogen. Die Nebenwirkungen der nachfolgenden Hormonbehandlung werden billigend in Kauf genommen. Bis heute ist nicht ausreichend erforscht, welche Auswirkungen auf die gesamte Verfassung der Frau* eine solche Gebärmutterentnahme hat. (Prof Hochleitner im online-magazin der Süddeutschen, https://www.privatpatient.at/tipps-infos/l/blog/von-herzerkrankungen-bis-covid-Frauenkoerper-ticken-anders/ vom 14.01.2022)

 

Ebenfalls ist bekannt, dass Frauen* (und Kinder) im häuslichen Bereich mehr Gewalt durch männliche Familienmitglieder ausgeliefert sind. Im Jahr 2020 stieg laut einer Kriminalstatistikauswertung die partnerschaftliche Gewalt um weitere 4,9%, so veröffentlicht vom Bundesministerium für Familie, Frauen*, Senioren und Jugend (MFFSJ, 23.11.2021). Dieses Ergebnis und das Wissen um eine erhebliche Dunkelziffer führte und führt nicht zu systematischen Maßnahmen wie zum Beispiel passgenaue Zugangswege zu Beratungsstellen oder eine ausreichende Aufstockung der Frauenhausplätze.

(https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/gewalt-in-partnerschaften-4-9-prozent-mehr-faelle-als-2019-187204 )

 

Die von engagierten Frauen* im Gesundheitswesen und angrenzenden Arbeitsfeldern erkämpften Einrichtungen für die nachweislich benachteiligten Zielgruppen Frauen* und Mädchen* (und andere Gruppen), stehen finanziell auf unsicherem Fundament. Sie sind  einem ständigen Legitimationsdruck ausgesetzt, obwohl sie strukturelle Fehlentscheidungen im System und evidenzbasierte Defizite deutlich machen und obwohl sie den Zugang zu Gesundheitsleistungen für Frauen* und Mädchen* durch passgenaue, qualitativ hochwertige und kompetente Angebote sichern und erhöhen (www.profem.de).

 

 

Frauen* sind der größte (häusliche) Pflegedienst der Republik!

 

Frauen* pflegen mehrheitlich kurzfristig und langfristig erkrankte Familienmitglieder im Haushalt und sie sind sehr viel häufiger diejenigen, die Pflegetätigkeiten von alten Familienmitgliedern übernehmen. Laut einer Publikation des DIW Berlin übernehmen Frauen* zu 2/3 (von 4,3 Millionen Pflegenden) sowohl die informelle (ohne professionelle Unterstützung) Pflege (in 53% Haushalten mit Pflegebedarf) als auch eine kombinierte Form der Pflege (mit und ohne professionelle Unterstützung in 30% der Haushalte mit Pflegebedarf). Mehr als die Hälfte von ihnen ist selbst über 50 Jahre alt. Hier treffen zwei vulnerable Gruppen aufeinander, die wenig Unterstützung erhalten und zu Beginn der Pandemie sogar vergessen wurden. Impfangebote für häuslich untergebrachte Pflegebedürftige und Pflegende gab es erst sehr spät. Noch heute stehen Schutzkleidung und Hygieneartikel nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Es ist anzunehmen, dass sich die Zahlen aus 2018 aufgrund der pandemiebedingten Widrigkeiten enorm gesteigert haben und aktuell weit mehr als 2/3 Frauen* in der häuslichen Pflege ohne Unterstützung versuchen diese Mammutaufgabe zu meistern. Deren physische wie psychische Belastung wird durch die Sorge um die eigene Infektion oder die der zu pflegenden Person und insbesondere bei dementen zu pflegenden Personen, enorm gesteigert. (Björn Fischer, Johannes Geyer; 2021 Nr. 38 — 28. April 2020  https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.785853.de/diw_aktuell_38.pdf)       

 

 

Unsere Gesundheitsbezogenen Forderungen im Einzelnen

  • Umsetzung der Frauen*rechtskonvention, Übereinkommen zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der Frau, CEDAW (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women), vor allem Paragraf 12(1): "Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im Bereich des Gesundheitswesens, um der Frau gleichberechtigt mit dem Mann Zugang zu den Gesundheitsdiensten, einschließlich derjenigen im Zusammenhang mit der Familienplanung, zu gewährleisten"
  • konsequente Umsetzung des Hamburger Koalitionsvertrages: „Wir berücksichtigen geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung und bauen Diskriminierungen und Zugangsbarrieren ab. Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden.“
  • genderdifferenziertes Monitoring aller Gesundheitsdaten zur Vermeidung des Gender Data Gap
  • konsequente Umsetzung der EU-Richtlinie, wonach die Geschlechterverteilung in allen klinischen Studien nach der zu behandelnden Patient*innengruppe auszurichten ist, die damit behandelt werden soll. Also bei Medikamenten für Frauen* sollen diese vor allem mit Frauen* getestet werden und andersherum
  • Öffentlichkeitskampagnen zu unterschiedlichen Symptomen und Sofortbehandlungen bei genderspezifischen Krankheitssymptomen und -verläufen
  • gendergerechte Vergabe von Forschungsvorhaben für gesundheitsbezogene Fragestellungen und insbesondere für die Erforschung von Krankheiten, Krankheitsverläufen, die überwiegend oder ausschließlich Frauen* betreffen wie z. B. starke Schmerzen während der Periode, sehr starke Blutungen, aber auch über Monate anhaltende Übelkeit während der Schwangerschaft etc.
  • Förderung von gendersensibler Frauen*forschung zur Identifizierung von Gender Bias im Gesundheitswesen durch paritätische Beteiligung von Frauen* in den Führungsgremien der medizinischen Organisationen
  • strukturelle Aufnahme der Gendermedizin in alle Curricula der Ausbildungen von pflegenden und medizinischen Berufen und Studiengängen
  • Konsequente Anwendung der medizinischen Leitlinien unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Gendermedizin
  • gerechte Vergabe von qualitativ gleichwertigen Heil- und Hilfsmitteln an weibliche und männliche Patient*innen
  • Bereitstellung für adäquates Hygiene- und Schutzmaterial in Zeiten der Pandemie
  • in Qualität und Quantität ausreichende Personalausstattung auf Geburtsstationen in Kliniken
  • Förderung der Betreuung werdender Mütter durch Hebammen, unter anderem notwendige Rahmenbedingen schaffen für realisierbare Haftungsmöglichkeiten der Hebammen
  • genderspezifische Datenauswertung pandemiebedingter Entwicklungen
  • auf Frauen* mit Long-Covid zugeschnittene ambulante Beratungs- und ortsnahe und tagesklinische Reha-Angebote
  • Verbesserung der Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für beide Elternteile (gleichwertige Beteiligung der Väter bei allen Care-Tätigkeiten)
  • verlässliche Kinderbetreuung ab dem 1. Jahr
  • verlässliche Ganztagsschulen
  • Anerkennung der Müttergenesungswerke als Rehamaßnahmen, die unter staatlichen Schutz gestellt werden
  • Absicherung der spezifischen, passgenauen Unterstützungsangebote (ambulante und ortsnahe gesundheitsbezogene Angebote und vorgeschaltete Beratungsstellen) mit genderorientierten Konzepten
  • Aufstockung der Frauenhausplätze
  • Abschaffung des §219a

Unsere Pflegebezogenen Forderungen im Einzelnen

  • gerechte Aufwertung der Tätigkeiten in der Pflege und eine entsprechende höhere Bezahlung von pflegenden Fachkräften des Gesundheitswesens
  • Realistische, legale und bezahlbare Konzepte der häuslichen Pflege (Legitimierung von Pflegekräften aus dem Ausland)
  • Grundsätzlich: Übernahme der finanziellen Risiken der Pflegenden. Das heißt: Zahlung von Einkommenseinbußen und davon abgeleiteten Rentenansprüchen, die durch häusliche Pflege entstehen. (weg von der individueller Kreditfinanzierung hin zu solidarischer Finanzierung der häuslichen Pflege)
  • Einrichtung weiterer ambulanter Tages- und stationärer Kurzzeitpflege